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Neue Werte für die Wirtschaft

Alternative Gemeinwohl-Ökonomie

    Einem Freund helfe ich gerne. Einem Konkurrenten aus Prinzip nicht. Einem Freund lasse ich immer wieder einmal den Vortritt. In der Marktkonkurrenz werde ich bestraft, wenn ich das tue. Wenn mein Freund vor Verzweiflung weint, lege ich tröstend meinen Arm um ihn. Auf dem freien Markt wird nicht getröstet. Mitfühlen, die zentrale Bedingung für das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen, ist schlecht für das Geschäft.

    Tiefer Werte-Widerspruch

    Dieser tiefe Werte-Widerspruch spaltet uns innerlich. Die Rede von den „europäischen Werten“ ist peinlich, wenn diese am Vormittag ganz anders aussehen als am Abend. Wir können uns untertags schlecht als Konkurrenz-Gegner betrachten und in Hierarchien leben und am Abend auf Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Solidarität umschalten. Es kann nur eine Ethik geben. Wenn es zwei Ethiken gibt, färbt die eine Sphäre zwangsläufig auf die anderen ab. Genau das ist heute der Fall: Die Werte der Wirtschaft prägen die gesamte Gesellschaft. Der kapitalistische Charakter formt den „Gesellschafts­charakter“ [Fromm 1992, p. 129].

    Die Systemwirkung, dass sich der Egoistischere durchsetzt, ist ein fataler Fehlanreiz. Die Institutionen und Gesetze der Wirtschaftspolitik setzen diesen Fehlanreiz sie fördern unreife und asoziale Werte und Verhaltensformen: Auf dem „freien“ Markt gilt es als effizient und rational, wenn ich meinen eigenen Vorteil gegen den anderen durchsetze: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers, Bäckers erwarten wir unsere tägliche Mahlzeit, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgen“, formulierte Adam Smith im Wohlstand der Nationen. Eine Verhaltensmaxime, die seither unverändert gilt.

    Aus meiner Sicht ist dieser Imperativ jedoch unmenschlich, weil das vorrangige Streben nach dem eigenen Vorteil zwingend zur Übervorteilung anderer Menschen führt; und das verletzt ihre Würde. Die Menschenwürde kann nach Kant in einer Gesellschaft nur gewahrt werden, wenn wir einander im täglichen Umgang immer zuerst als Personen mit Wert an uns selbst behandeln und höchstens zweitrangig als Mittel für unsere Zwecke. Auf dem freien Markt ist es sehr oft umgekehrt: Menschen werden als Mittel für die Zwecke anderer Menschen behandelt; dazu werden sie ermutigt, weil sie das eigene Interesse verfolgen und den eigenen Vorteil anstreben sollen. Die Übervorteilung anderer verstößt auch gegen den kategorischen Imperativ: Würde das wechselseitige Übervorteilen zum „allgemeinen Gesetz“ und zur „Maxime“ des menschlichen Umgangs, dann gute Nacht Zivilisation. Der Volksmund sagt: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Will irgendjemand übervorteilt werden? Natürlich nicht. Somit verstößt die Maxime von Adam Smith, die bis heute der Marktwirtschaft zugrunde liegt, gegen den kategorischen Imperativ und gegen die Menschenrechte. Im ersten Absatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht, dass die Menschen einander „im Geiste der Brüderlichkeit (heute: Geschwisterlichkeit) begegnen“ sollen. Und nicht, dass wir primär unseren eigenen Vorteil suchen und einander konkurrenzieren sollen.

    Wenn ich jederzeit damit rechnen muss, dass mich ein Tauschpartner übervorteilt, dann wird systemisch das Vertrauen zerstört. Die Ökonomen sagen, in der Wirtschaft gehe es um Effizienz. Doch das ist eine verkehrte Sicht der Dinge, denn das Vertrauen ist das vielleicht höchste soziale und kulturelle Gut, das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Und dieses Gut dürfen wir nicht zugunsten höherer ökonomischer „Effizienz“ systemisch zerstören!

    „Brutale“ statt „freie“ Marktwirtschaft

    Die Bildung von Vertrauen müsste vielmehr systemisches Ziel des Wirtschaftens sein, und dem steht der Aufruf, das eigene Interesse vorrangig zu bedienen, diametral entgegen. Die systemische Wahrung der Menschenwürde ist die Voraussetzung dafür, dass die Freiheit systemisch gewahrt werden kann, deshalb wird in einer Wirtschaftsform, in der die Menschenwürde systemisch verletzt wird, auch die Freiheit strukturell zerstört. Und deshalb ist die „freie Marktwirtschaft“ ein Widerspruch in sich, solange sie auf Gewinnstreben und Konkurrenz aufbaut. Die bisher als „frei“ etikettierte Marktwirtschaft muss folgerichtig in „brutale“ oder „inhumane“ und dadurch „illiberale“ Marktwirtschaft umbenannt werden.

    Übervorteilen nicht möglich?

    Die Anhänger der „freien Marktwirtschaft“ antworten auf diese Analyse gerne, dass das Übervorteilen einer TauschpartnerIn gar nicht möglich sei, weil auf dem „freien“ Markt niemand gezwungen werde, einen Tausch einzugehen. Jeder sei frei, von jedem Tausch zurückzutreten. Dadurch könne niemandes Würde verletzt und niemandes Freiheit zerstört werden. Doch meiner An­sicht nach trifft die schadlose Rücktrittsmöglichkeit nur für einen Teil der Markttäusche zu. Für einen relevanten Teil der Täusche hin­gegen nicht. In der Regel kann eine TauschpartnerIn leichter vom Tausch zurücktreten als der/die andere, womit Letztere vom Tausch abhängiger ist. Dadurch entsteht ein Machtgefälle, das die Übervorteilung des Schwächeren strukturell ermöglicht. Beim Weltkonzern, der auf ein globales Millionenheer von Billigarbeitskräften zurückgreifen kann, liegt diese Möglichkeit auf der Hand. Doch hier geht es um ein struktu­relles Argument. Das Machtgefälle in Markttäuschen ist die Regel:

    • Die typische arbeitgebende Person kann leichter vom Arbeitsvertrag zurücktreten als die typische arbeitsuchende Person.
    • Die typische kreditgebende Person kann leichter vom Kreditvertrag zurücktreten als die typische kreditansuchende Person.
    • Die typische Immobilienverwaltung kann leichter vom Miet- oder Kaufvertrag zurücktreten als die typische wohnungssuchende Person.
    • Der typische Konzern (z. B. Aldi) kann leichter vom Liefervertrag zurücktreten als einer seiner tausend Zulieferbetriebe.

    In einer relevanten Zahl von angeblich „freien“ Markttäuschen gibt es somit ein Machtgefälle, das von der mächtigeren Partei in der Regel auch ausgenützt wird. Dazu wird sie von der ökonomischen Wissenschaft ermutigt. Das ist der Kern der ökonomischen Rationalität.

    Macht als Leistung

    Wenn sich aber strukturell der Mächtigere auf Kosten des Schwächeren durchsetzen darf, hat das nicht nur nichts mit Freiheit, sondern auch mit Leistung nichts mehr zu tun. Wer hat, erhält noch mehr. Die erste Million ist sauschwer, für die große Mehrheit unerreichbar. Danach wird es immer leichter. Die zweite Million ist nicht halb so schwer wie die erste. Die Arbeit, die für die 101. Million nötig ist, merkt man kaum noch. Wer eine Milliarde Euro besitzt, muss täglich 220000 Euro ausgeben, um nicht reicher zu werden. Das nennen wir dann „Leistungsgesellschaft“ (weil wir uns Macht als Leistung verkaufen lassen).

    Die bestbezahlten Manager in den USA erzielen ein Jahreseinkommen von 3,7 Milliarden US-Dollar [Felber 2009] das 300000fache des gesetzlichen Mindestlohnes dafür, dass sie das Geld der Reichen schneller vermehren als das Geld aller anderen, was zur zwingenden Folge hat, dass andere verarmen. Gesamtgesellschaftlich bewertet besteht ihre Leistung in der Produktion von Ungleichheit; damit in der Erhöhung des innergesellschaftlichen Aggressions- und Gewaltpotenzials. Sozialmedizinische Forschungen haben ergeben, dass Menschen in Stress geraten und mit Erkrankung oder Aggression reagieren, wenn die Ungleichheiten in einer Bezugsgruppe zu groß werden, weil das den Gruppenzusammenhalt gefährdet.

    Der bestbezahlte europäische Manager Porsche-Chef Wendelin Wiedeking kassiert 60 Millionen Euro dafür, dass er die umweltschädlichsten europäischen Autos „effizient“ produzieren lässt und der Gesellschaft via BILD-Zeitung den „Wirtschaftskrieg“ erklärt, wenn sie ihn dazu zwingen will, dass er etwas weniger umweltschäd­liche Autos herstellt.

    Nokia nimmt 88 Millionen Euro Subvention für den Standort Bochum und sperrt ihn zu, trotz Rekordgewinnsprung um 67 Prozent auf sieben Milliarden Euro in einem Jahr und obwohl der Standort profitabel war nicht profitabel genug für die Ansprüche der Aktionäre.

    Wal Mart ist zum größten Konzern der Welt geworden durch Lohndumping, Sozialdumping, Diskriminierung von Frauen und die Verdrängung von dutzenden Tausend selbs­tständigen EinzelhändlerInnen. Wal Mart kostet die Allgemeinheit jährlich 1,5 Mrd. US-Dollar Wohnbeihilfe, Essensmarken und KV-Zuschuss für seine Beschäftigten, die so wenig verdienen, dass sie diese öffentli­chen Leistungen in Anspruch nehmen müssen.

    Wer nimmt, dem wird gegeben

    Wer nimmt, dem wird gegeben. Das Nehmen wird seit 250 Jahren belohnt, damals stellte Adam Smith wie oben zitiert fest, dass das Eigennutzstreben der einzelnen Wirtschaftsakteure im Endeffekt zum Wohl aller führen würde. Dieses Paradox, der blinde Glaube an die segensreiche Wirkung einer „unsichtbaren Hand“, hat einen spezifischen historischen Hintergrund.

    Als sich Adam Smith [siehe 2005] vor 250 Jahren für unternehmerische Freiheit einsetzte, tat er das nicht so sehr, weil das für ihn die höchste Freiheit war. Die wirtschaftliche Freiheit war für ihn auch ein Vehikel für die politische Freiheit. Es war die Zeit der Aufklärung und des Übergangs vom Absolutismus zur Demokratie. Smith hoffte, dass Menschen, die wirtschaftlich die Initia­tive ergreifen, auch politisch mündig werden. Die politische Freiheit galt dem Liberalen Smith mehr. Außerdem bildeten im typischen Unternehmen seiner Zeit Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Eigentümer eine Personalunion. Freiheit und Verantwortung waren in einer Person vereint.

    Heute ist die Situation eine ganz andere: In vielen Ländern sind Demokratien eingerichtet und Bürgerrechte in den Verfassungen festgeschrieben, wir brauchen wirtschaftliche und Eigentumsfreiheit nicht mehr als Vehikel für die Durchsetzung politischer Freiheiten. Im Gegenteil: Die extreme Konzentration von Eigentum und die riesige Größe und Macht von Unternehmen ist zur größten Gefahr für die Demokratie geworden. Der Umsatz der 500 größten Konzerne im Verhältnis zum Weltwirtschaftsprodukt hat sich von einem Viertel vor zehn Jahren auf ein Drittel heute erhöht.

    Gewinn-Maximierung im Überlebenskampf

    Diese „Personen“ globale Konzerne sind juristische Personen haben ein oberstes Ziel: maximalen Gewinn. Da sie ungleich größer und mächtiger sind als natürliche Personen, können sie dieses Ziel effektiver verfolgen als diese. Sie werden weniger von Skrupeln geplagt, und die Verantwortung versickert leichter in anonymen Vertragsgeflechten. Juristische Personen werden nicht nur durch das Gesetz zur Gewinnerzielung verpflichtet, sie sind dazu durch die Konkurrenz gezwungen. Nur wer einen höheren Gewinn erzielt als die anderen, überlebt: So müssen alle den Gewinn maximieren.

    Zudem werden heute selbst die größten Industriekonzerne von einer neuen Schicht von Eigentümern zur Gewinnmaximierung um jeden sozialen, ökologischen und demokratischen Preis genötigt: Finanzinvestoren wie Private-Equity-Fonds oder Hedge-Fonds übernehmen das Kommando und fordern Rendite keine langweilige, sondern eine spektakuläre. Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, musste ein Renditeziel von 25 Prozent formulieren, um die An­sprüche der Eigentümer zu befriedigen. Für den Geschäftsführer von Blackstone, einem der renommiertesten Private-Equity-Fonds, beginnt „Erfolg“ ab einer Jahresrendite von 30 Prozent. Da Finanz­investoren ihrerseits zueinander in Konkurrenz stehen, müssen alle folgen, wenn einer eine „Benchmark“ vorgibt. Andernfalls verlieren sie ihre Kundschaft und damit die ökonomische Konkurrenz, zu der sie in der „freien“ Marktwirtschaft gezwungen sind.

    „Konkurrenz führt zu Höchstleistung“

    Die Konkurrenz ist es, welche die Marktwirtschaft zu einer historisch angeblich unerreichten Produktivität geführt hat. Konkurrenz sei der beste Ansporn für Menschen, sie führe zur höchsten Leistung, wird auf allen Wirtschaftsuniversitäten der Welt heute gelehrt. „Konkurrenz ist die effizienteste Strategie, die wir kennen“, meinte der Vordenker des Neoliberalismus, Friedrich von Hayek [2004]. Doch haben die Ökonomen diese Behauptung jemals wissenschaftlich bewiesen? Wo sind die empirisch nachprüfbaren Experimente, die diese Aussage stützen? Es gibt sie nicht. Die Ökonomen glauben unhinterfragt an die motivierende Wirkung der Konkurrenz. Es gibt sie ja auch, bloß: Sozialwissenschaftliche Forscher haben eine Fülle von Experimenten durchgeführt und kamen zu einem anderen Ergebnis: Neun von zehn Studien ergaben [Kohn, p. 205], dass nicht Konkurrenz zur höchsten Leistung führt, sondern Kooperation. Wollte die Marktwirtschaft ihr Wirtschaftsmodell auf der effektivsten Strategie aufbauen, die wir kennen, so müsste sie systematisch auf Kooperation setzen und nicht auf Konkurrenz.

    Kooperation motiviert stärker Konkurrenz ist soziales Gift

    Der Grund, warum die Kooperation stärker motiviert als Konkurrenz ist die unterschiedliche Art, wie beide Strategien motivieren: Kooperation motiviert durch Wertschätzung, Anerkennung und gemeinsame Zielerreichung: mein Erfolg ist dein Erfolg. Das Gelingen von Beziehungen lässt unsere Hirne laut neurobiologischen Forschungen die höchste Anzahl von Motivationsstoffen ausschütten: Wir leisten am meisten, wenn wir kooperieren [Bauer 2006]. Konkurrenz motiviert hingegen primär durch Angst, Druck, Stress. Sie lässt Beziehungen misslingen: ich gewinne, indem du verlierst. Konkurrenz führt zu Misstrauen und Unsicherheit: Sie ist ein soziales Multigift.

    Fazit: Die Anreizkombination aus Gewinnstreben und Konkurrenz ist auf globaler Ebene zur größten Gefahr für ein humanes Zusammenleben geworden. Die Annahme, dass das Gewinnstreben einander konkurrenzierender Unternehmen zum größtmöglichen Gemeinwohl führt, ist die Lebenslüge des Kapitalismus. Das Gewinnstreben globaler Konzerne und Finanzin­vestoren führt heute vielmehr:

    1. zur systematischen Verletzung der Menschenwürde, weil der Schwächere auf dem Markt nicht human behandelt wird, sondern sehr oft erniedrigt wird und verschiedenste Formen von Gewalt erfährt,

    2. zu ungerechter Verteilung infolge der Machtgefälle:

    Die Umwandlung des gemeinwohlorientierten in einen gewinnorientierten Finanzsektor hat diese Entwicklung stark angetrieben.

    3. zu ökologischer Zerstörung,

    4. zur Verringerung kultureller Vielfalt,

    5. zur Durchsetzung von Produkten, die keiner braucht oder will:

    Auf die durchschnittliche US-BürgerIn hageln täglich 3 600 Werbebotschaften ein. Kaufsucht nimmt epidemische Ausmaße an. In Österreich ist jede zweite junge Frau kaufsuchtgefährdet. Die Gentechnikkonzerne schaffen es, gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung ihre Produkte durchzusetzen,

    6. während gleichzeitig Grundbedürfnisse ungestillt bleiben, die über keine Kaufkraft verfügen.

    Täglich sterben 13000 Menschen an heilbaren Krankheiten, weil das Ziel der Pharmakonzerne nicht die Versorgung mit notwendigen Gütern ist, sondern Gewinn.

    7. zur systematischen Beschränkung des Wettbewerbs, der die Voraussetzung dafür wäre, dass in klassisch „liberaler“ ökonomischer Sicht dieser in Form niedriger Preise Wohlstand schaffe (unbeantwortet bleibt: auf wessen Kosten?),

    8. zur Untergrabung der Demokratie:

    a) Grundsätzlich gilt: Wenn die größten Organisationen in einer Demokratie undemokratisch organisiert sind, schwächt das die Demokratie. Wer im Arbeitsleben die tägliche Erfahrung macht, dass es keine Demokratie gibt, wird sich auch „in der Politik“ weniger überzeugt für ihren Erhalt einsetzen.

    b) Für eine juristische Person ist die Entscheidung, ob sie ein Gesetz einhält, eine ökonomische Entscheidung, keine moralische. Solche Abwägungen führen zum Bankrott des Rechtsstaates.

    c) Juristische Personen tun alles, um Gesetze, die ihrem Interesse entgegenstehen, zu verhindern. Porsche klagt gerade gegen die Citymaut in London, Monsanto gegen das deutsche Gentechnik-Anbauverbot. Die Finanzunternehmen der Wall Street investierten 1998 2008 mehr als fünf Milliarden US-Dollar in Lobbyisten [Felber 2009]. Mit ihrer Hilfe verhinderten sie zum Beispiel die Regulierung von Finanzderivaten, die einen maßgeblichen Beitrag zur Entstehung der derzeitigen Finanzkrise leisteten. Andere Finanzmarktregulierungen, teilweise noch solche aus der Großen Depression der 1930er Jahre, wurden erfolgreich gesprengt.

    d) Sie setzen mächtige Ressourcen ein, um Gesetze durchzubringen, die ihnen nützen, aber der Allgemeinheit schaden. Die Globalisierung, die wir heute haben, ihre wirtschaftspolitischen Spielregeln sind keine demokratischen Errungenschaften, sondern Lobbying-Erfolge kapitaler Minderheiten. Der freie Kapitalverkehr zwischen der EU und dem Rest der Welt wurde im Primärrecht der EU verankert. Durch diese Regulierung konnte sich die EU nicht vor der Ansteckung mit der Finanzkrise schützen: Sie musste dem finanziellen Giftmüll, der nun die Bilanzen der Banken belastet, freie Einreise gewähren.

    e) Gewinnorientierte juristische Personen zeigen in der Regel keine demokratische Verantwortung, weil die Demokratie für sie nur ein Mittel wie jedes andere für ihren vorrangigen Zweck des Gewinnerzielens ist. Dabei richten sie die Demokratie zugrunde.

    „Wir müssen das Gewinnstreben mäßigen“

    Wenn man aufzählt, was das Gewinnstreben alles anrichtet, dann heißt es heute oft und immer öfter: „Wir müssen das Gewinnstreben mäßigen/zügeln.“ Ich glaube nicht an das mäßige Gewinnstreben, das alle einfordern. Warum nicht? Weil der Wettbewerb denjenigen, der maximales Gewinnstreben praktiziert, gegenüber demjenigen, der mäßiges Gewinnstreben praktiziert, begünstigt. Der mit dem höheren Gewinn gewinnt, egal, ob er auf rücksichtsvolle oder skrupellose Weise zu dem Gewinn kommt. Der mäßige Gewinnstreber könnte nur dann gewinnen, wenn ihm das Gesetz gegenüber dem Profitmaximierer einen Vorteil gewähren würde. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, der Gesetzgeber bevorzugt den Profitmaximierer, indem er beide zueinander in freie Konkurrenz setzt. Da gewinnt zwangsläufig der mit dem höheren Gewinn.

    Wie sehr das mäßige Gewinnstreben ein Widerspruch in sich ist und wie gespalten unsere Ethik ist, lässt sich auf anschauliche Weise am Verhalten von Nationalstaaten in der Globalisierung zeigen. „Wir“ Deutsche, Österreicher, Finnen oder Chinesen tun auf der einen Seite alles dafür, dass „unsere“ Konzerne wettbewerbsfähig sind und sich in der globalen Konkurrenz durchsetzen und auf der anderen Seite sollen sie das Gewinnstreben nicht übertreiben? Das ist ein abgründiger und peinlicher Widerspruch! Welches Unternehmen gewinnt den globalen Wettbewerb? Das Netteste? Das sozial Verantwortlichste? Das ökologisch Nachhaltigste? Das Innovativste? Es gewinnt das mit dem höchsten Profit, egal wie es den zustande bringt. Wenn wir daher für globale Wettbewerbsfähigkeit eintreten, dann treten wir automatisch für Profitmaximierung ein und nicht für Gewinnmäßigung!

    Das ist auch der Grund, warum CSR (corporate social responsibility / soziale Verantwortung von Unternehmen) in der Regel nicht funktioniert, solange sie freiwillig und unverbindlich bleibt. Der Grund: CSR-Unternehmen sind im Regelfall „netter“ als skrupellose Profitmaximierer, sie zahlen höhere Löhne, gewähren großzügigere Sozialleistungen, achten stärker auf die Umwelt und quetschen die Zulieferbetriebe nicht aus. Dadurch handeln sie sich jedoch eine Reihe von Wettbewerbsnachteilen ein. Im Ausnahmefall kann das nettere Unternehmen, wenn es auch noch ganz außerordentlich geschäftstüchtig ist oder eine Marktnische findet, den kapitalistischen Wettbewerb gewinnen oder diesem ausweichen. In der Regel aber setzt sich der Rücksichtslosere, der Billigere durch, und der Nette ist der Dumme.

    Der Nette könnte gewinnen

    Der Nette könnte nur dann gewinnen, wenn er aus dem Nettsein einen rechtlichen Wettbewerbsvorteil zöge (und nicht nur einen moralischen). Dazu müsste das Nettsein, die soziale und ökologische Verantwortung, das Leben von Demokratie und Solidarität, zum Ziel des Wettbewerbs werden anstelle des Gewinns. Wie ließe sich das bewerk­stelligen?

    Drei Schritte führen zum Ziel:

    1.Wir müssen die Unternehmen mit demselben Ziel ausstatten, um das es in der Gesamtveranstaltung geht: das allgemeine Wohl. Anstatt zur Gewinnorientierung verpflichten wir sie per Gesetz zur Gemeinwohlorientierung. Dann würde das Ziel der Einzelakteure mit dem Ziel der Gesamtveranstaltung übereinstimmen. Und wir müssten das allgemeine Wohl nicht länger als Nebeneffekt und Abfallprodukt des egoistischen Gewinnstrebens der ökonomischen Einzelakteure erhoffen.

    2.Das neue Ziel Gemeinwohlorientierung ist auch die neue Bedeutung von unternehmerischem „Erfolg“. Dieser muss gemessen und verglichen werden können: Die Hauptbilanz der Unternehmen muss daher eine „Gemeinwohlbilanz“ sein, in der soziale, ökologische, demokratische und solidarische Leistungen aufscheinen. Die aussageschwache finanzielle Bilanz wird zum Nebenschauplatz. Finanzgewinn ist nicht mehr das primäre Ziel, sondern Geld ist nur noch ein Mittel für höhere Ziele. Die finanzielle Bilanz braucht nur noch ausgewogen zu sein: kostendeckendes Wirtschaften über den Investitionszyklus und Konjunkturzyklus.

    3.Nettsein wird belohnt: Je sozial verantwortlicher, ökologisch nachhaltiger, demokratischer, solidarischer und lokal empathischer sich ein Unternehmen verhält, je „erfolgreicher“ es in der neuen Bedeutung ist, desto größere rechtliche Vorteile erhält es: einen niedrigeren Zolltarif, Steuererleichterungen, Vorrang beim öffentlichen Einkauf (ein Fünftel des BIP), einen billigeren öffentlichen Kredit, Vorrang bei öffentlichen Forschungskooperationen etc. Mit der konsequenten Belohnung gesellschaftlich erwünschten Verhaltens werden sich die sozial verantwortlichsten und ökologischsten Unternehmen durchsetzen: Der Nettere gewinnt.

    Der Wettbewerb ändert dadurch sein Wesen:

    1. Wenn Unternehmen keinen höheren Gewinn erzielen müssen als die Konkurrenz und diese nicht mehr fressen müssen, um selbst nicht gefressen zu werden, sind alle vom wechselseitigen Fresszwang und vom Wachstumszwang erlöst. Die Systemdynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft erlischt.

    2. Aus der heutigen Kontrakurrenz (lat. gegeneinander laufen) könnte eine Konkurrenz im lateinischen Wortsinn werden: miteinander laufen, gemeinsam auf ein Ziel hinlaufen. Im Endeffekt: kooperieren. Wer dem Mitunternehmen die Hand reicht und dadurch Vertrauen bildet und Sicherheit schafft, wird dafür belohnt. (Kartelle machen in dieser Wirtschaftsform keinen Sinn, weil sie ein Mittel zur Maximierung des Gewinns sind; doch es geht nicht mehr um Gewinn, dieser würde weggesteuert.)

    3. Kapital wäre in diesen Unternehmen nur noch ein Mittel und nicht mehr der Zweck.

    Wer soll noch ein Unternehmen gründen?

    Ein Teil der gegenwärtigen Unternehmer wird sich fragen, welches Motiv jemand in einer solchen Wirtschaft haben sollte, ein Unternehmen zu gründen. Ich glaube, es werden mehr Menschen und Personengruppen sein als heute. Aus einem triftigen Grund: Weil sie nicht mehr systemisch und rechtlich zur Gewinnmaximierung genötigt wären auf Kosten anderer und des Gemeinwohls, sondern weil sie einen Beitrag zum allgemeinen Wohle leisten dürften, auf kooperativere Weise. Das gibt vielen Menschen mehr Sinn; Sinn macht glücklich und motiviert.

    Heute ist ein Unternehmen ein Mittel zum Eigennutz, das Allgemeinwohl ist das daraus erhoffte Abfallprodukt. In der neuen Wirtschaft wäre ein Unternehmen ein Mittel zur Erhöhung des Gemeinwohls, in dem das eigene Wohl inbegriffen ist. Durch diese Umpolung würden sozialere und reifere Menschen und Menschengruppen zum Zuge kommen als heute.

    Heute findet sich in den höchsten ökonomischen Entscheidungsetagen ein weit überdurchschnittlicher Anteil an soziopathologischen, nicht zum Mitgefühl fähigen, narzisstischen und suchtkranken Persönlichkeits­typen [Haller 2006, Bakan 2005, Fromm 1992, p. 146]. Das ist eine fatale Selektionswirkung des aktuellen Wirtschaftssystems. Der vorgeschlagene Anreizrahmen würde diese Selektionswirkung umkehren.

    In der Psychologie gilt ein Mensch als reif, wenn er/sie nicht nur die eigenen Bedürfnisse wahrnimmt, sondern auch die Bedürfnisse anderer. Schon Aristoteles sprach vom „sozialen Selbst“, die Ökophilosophie spricht heute vom „ökologischen Selbst“. Die Ausdehnung der Wahrnehmung, des Mitfühlens auf alle anderen und alles andere ist ein erstrebenswerter humaner Wert. Wir sollten deshalb auf dem Markt dazu angereizt werden, dass wir unsere Wahrnehmung auf unseren sozialen und ökologischen Lebenszusammenhang, auf andere Menschen, Tiere, Pflanzen, alles Seiende ausweiten. Aus dieser Verbundenheit entsteht Mitgefühl, aus Mitgefühl erwächst Solidarität und Gewaltlosigkeit. Das sollten wir von klein auf in der Schule lernen, in vier Grundfächern:

    • Gefühlskunde
    • Wertekunde
    • Naturerfahrenskunde
    • Demokratiekunde

    Demokratie in der Wirtschaft fördern

    Letztes Stichwort Demokratie. Wir sollten die Demokratie, wenn wir sie schon für einen zentralen Wert des Abendlandes halten, konsequenterweise auch in der Wirtschaft fördern. Je mehr Mitbestimmung in den privaten! Betrieben gelebt wird, je mehr sich alle Beteiligten einbringen können, je demokratischer Unternehmen organisiert sind, desto mehr Vorteile können sie sich erwarten. Manche Betriebe sollten wir zur Gänze demokratisch organisieren: das Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung, den öffentlichen Verkehr, die Versorgung mit Energie und Trinkwasser, aber auch die Banken.

    Wenn die Menschen in Kernbereichen der Wirtschaft die Erfahrung machen, dass wir in einer Demokratie leben, dass ihre aktive Mitbestimmung gefragt ist, dann stärken diese Menschen auch die allgemeine politische Demokratie. Auch hier sollten wir auf einheitliche Werte achten.

    Wir sollten die Werte zusammenführen, den Wert-Widerspruch heilen (= ganz machen). Wir sollten die Werte, die unseren Freundschaftsbeziehungen zugrunde liegen, auch den Wirtschaftsbeziehungen zugrunde legen. Die Gesetze und Institutionen der Wirtschaftspolitik sollten dieselben Verhaltensweisen und Werte fördern, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen.

    • Dumm die Gesellschaft, die die Werte fördert, die sie schwächen.
    • Klug die Gesellschaft, die die Werte fördert, welche sie stärken.
    • Wenn alle geizen, kommen alle zu kurz.
    • Wenn alle großzügig sind, ist genug für alle da.
    • Wird Geiz belohnt, entstehen Knappheit und Angst.
    • Wird Großzügigkeit belohnt, entstehen Verbundenheit und Sicherheit.
    • Großzügigkeit ist die intelligentere soziale Strategie.
    • Geiz ist die dümmere soziale Strategie.
    • Geiz ist nicht geil, Geist ist geil!

    Freiheit im Kapitalismus ist die Freiheit zur materiellen Konkurrenz, zum grenzenlosen Besitz und zum Konsum. Drei geistlose Freiheiten, die in die Achtlosigkeit und Unfreiheit führen.

    Freiheit im demokratischen Sinn heißt, dass wir diejenigen Werte frei wählen können, nach denen wir leben und die Regeln für das Wirtschaften gestalten wollen. Diese Freiheit sollten wir uns nehmen. -

    https://christian-felber.at/

    http://www.gemeinwohl-oekonomie.org

    http://www.bewegungsstiftung.at

    Dieser Artikel wurde als Vortrag auf der Mitgliederversammlung des ÖKKV am 15. April 2010 in Linz gehalten. Er baut auf dem Buch von Christian Felber: „Neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus“ (Deuticke, Wien 2008) auf, das sich in der 3. Auflage befindet. Alle Zahlen stammen aus diesem Buch.

    Literatur

    Bakan, Joel (2005). The Corporation. The pathological ­pursuit of profit and power. New York: Free Press.

    Bauer, Joachim (2006). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe.

    Felber, Christian (2006). 50 Vorschläge für eine gerechtere Welt. Gegen Konzernmacht und Kapitalismus. Wien: Deuticke.

    Felber, Christian (2008). Neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus. Wien: Deuticke.

    Felber, Christian (2009). Kooperation statt Konkurrenz. 10 Schritte aus der Krise. Wien: Deuticke.

    Fromm, Erich (1992). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. 21. Auflage. ­München: Deutscher Taschenbuchverlag.

    Haller, Reinhard (2006). Interview in Der Standard, 23. Dezember 2006.

    Hayek, Friedrich August (2004). Der Weg zur Knechtschaft. Deutsche Reader´s Digest Ausgabe. Wien: Friedrich August v. Hayek Institut.

    Kohn Alfie (1986/1992). No Contest. The Case against ­Competition. Why we lose in our race to win. Boston/New York: Houghton Mifflin Company.

    Smith, Adam (2005). Der Wohlstand der Nationen. 11. Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag.

    Vaughan, Genevieve (2002). For-Giving. A Feminist ­Criticism of Exchange. Austin: Plain View Press/­Anomaly Press.

    Aktuelle Bücher und Bestseller von Christian Felber:

    50 Vorschläge für eine gerechtere Welt (2006),

    Neue Werte für die Wirtschaft (2008),

    Kooperation statt Konkurrenz (2009),

    Gemeinwohl-Ökonomie (2010)

    Christian Felber

    freier Publizist und Autor, Mitbegründer und Sprecher von Attac Österreich, Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien, Mitbegründer der Bewegungsstiftung Österreich und Mitinitiator der Demokratischen Bank

    Christian Felber, Wien

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